Künstler für Schüler in Mecklenburg Vorpommern

Bitte nicht sauber machen – künstler für schüler in Mecklenburg Vorpommern

Auf den Schulfluren wird getuschelt: Ein großer, hagerer Mann schreitet wieder durch die Gänge der Grundschule, konzentriert, ein wenig mysteriös, aber doch freundlich wirkend: Der Künstler ist in der Schule. Einige Schüler bekommen die Gelegenheit, im Workshop gemeinsam mit dem Künstler mehrere Wochen lang kreatives Arbeiten und dabei auch sich selbst auszuprobieren. Alternativ erschaffen manche Künstlerinnen auch während einer kompletten Projektwoche autonome Areale in den Schulen. So bedankt sich eine Künstlerin ausdrücklich bei der kooperierenden Kunstpädagogin, die ein Schild mit dem Hinweis „Bitte nicht sauber machen“ an die Tür geklebt hat, um dem Klassenraum seinen Ausnahmezustand zu bewahren. Die Ordnung, die normalerweise nach dem Unterricht wiederherzustellen ist, wird durchbrochen mit einem assoziativem und schöpferisch noch zu sortierendem Chaos des Ateliers.

Das Kulturwerk des Künstlerbundes Mecklenburg und Vorpommern ist Träger des Projektes künstler für schüler. Zwei Projektleiterinnen koordinieren die Workshops im Dialog mit Künstlerinnen, Lehrern und Schulen, organisieren eine gemeinsame Abschlussveranstaltung für alle Teilnehmer und eine Weiterbildungsveranstaltung für Künstler und Lehrerinnen. Die finanzielle Abwicklung wird durch eine Assistenz in Teilzeit vorgenommen. 2017 werden dreißig Einzelworkshops und fünf Tandemprojekte, jeweils gemeinsam geleitet zwei Künstlern. Damit sind insgesamt vierzig Künstlerinnen und Künstler in Kooperation mit 35 Kunstlehrerinnen und Schulen im Einsatz und werden durch das Kulturwerk des Künstlerbundes betreut.

Die Idee

Seit dem Jahr 2000 sind die Künstler-Workshops als langfristiges und landesweites Projekt zur Kulturförderung des Landes etabliert und werden seit Beginn durch das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern gefördert. Damit ist eine Kontinuität und langfristige Entwicklung des Projektes weitgehend gesichert. Als das Projekt startete, wendeten sich die Initiatoren mit dem Projekt gegen die wachsende Gewalt und Gefühlsarmut an den Schulen. Außerschulische Aktionsräume zu eröffnen und mit den Künstlerinnen schulfremde Akteure einzubringen war ein Experiment. Auch noch heute schaffen die Workshops offene Situationen, selbst wenn die Workshop-Leiter oft jahrelange Erfahrung in der Arbeit mit Schülern mitbringen. Waren es in den Anfangsjahren des Projektes noch rund zwanzig Workshops stieg die Anzahl schnell.

künstler für schüler richtet sich an sämtliche Schulformen und Schüler und Schülerinnen in allen Altersstufen. Die Künstler entwickeln ein Projekt und führen es gemeinsam mit einer Schule durch. Die Kunstlehrer übernehmen den pädagogischen Teil der Arbeit und stehen den Künstlern in der Workshop-Organisation, der Vermittlung sowie im Umgang mit den Schülerinnen zur Seite.

Künstlerische und kulturelle Vielfalt

Um qualitativ hochwertige Angebote zu fördern und um möglichst vielen Schulen abwechselnd die Teilhabe am Projekt zu ermöglichen, bewerben sich die Künstlerinnen in Absprache mit ihrer kooperierenden Schule beim Kulturwerk des Künstlerbundes MV.

Die künstlerischen Gattungen gehen weit über die „klassischen“ Felder wie Malerei, Zeichnung und Skulptur hinaus. Fotografie gehört längst zu einem wichtigen Medium, insbesondere wenn die eigene Stadt erkundet oder die eigene Identität untersucht wird. Mit Land Art, Architektur, Produktdesign bis hin zu Glas- und Metallobjekten. Das Ausprobieren von wenig vertrauten Materialien und Werkzeugen erfordert Geduld und teils ganz unerwartete körperliche Anstrengungen, wenn es darum geht Formen aus Holz oder Metall herauszuschneiden.

Interdisziplinär angelegte Workshops, ob mit Tänzern, Theatermacherinnen oder Literaten, werden seit Beginn des Projekts vor 18 Jahren angeboten. Seit 2015 werden diese interdisziplinären Künstler-Paare als „Tandem-Projekte“ gezielt gefördert. Auch zwei Bildende Künstlerinnen können sich im Tandem zusammenschließen. Die Partnerschaft bietet intensivere Möglichkeiten zum Austausch über Erfahrungen und Methoden. Neue Ideen können leichter im Dialog entwickelt werden.

Interkulturalität spielt in zahlreichen Workshops eine Rolle, wobei der Schwerpunkt vor allem auf das Entdecken anderer Kulturen oder die Reflexion eigener Vorstellungsbilder gelegt wird. Über die Bilder und Objekte können Geschichten aus verschiedenen Heimaten über kulturelle Besonderheiten erzählt und direkt veranschaulicht werden. Generationenübergreifende Projekte wurden hingegen selten durchgeführt. Sie sind aber eine weitere Gelegenheit, um beispielsweise Senioren zum Plaudern auf Plattdeutsch oder zum gemeinsamen Zeichnen mit den Teilnehmenden zu bewegen. Insbesondere die Workshops an Förderschulen bieten sowohl für die Künstler als auch für die Schülerinnen neue Erfahrungen. Mit Geduld wird auf die individuelle Wahrnehmung eingegangen.

 

Die Praxis

künstler für schüler bereichert das Angebot der Schulen. Die Kinder und Jugendlichen können ohne den Druck von Noten und ohne ein fest definiertes Lernziel sich selbst und Materialien ausprobieren. Kreative Lösungswege werden entwickeln und auch der Mut dabei zu scheitern, kann innerhalb der Kunstprojekte geweckt werden. Wichtige Erkenntnis ist, dass die Schülerinnen mit Künstlern als anders vermittelnde Personen in Kontakt treten und weniger eine alltägliche Lernerfahrung haben, sondern in einem kreativen Prozess mit offenen Ende arbeiten. Die Künstlerinnen vermitteln mit den künstlerischen Schaffensprozessen in der Schule bisher vielleicht unentdeckte Wege für Problemlösungen. Sie unterstützen die Suche nach der eigenen Identität und stellen Vertrautes und Vorurteile auf die Probe, wenn ganze Vorstellungswelten oder auch der Mikrokosmos eines Stück Holzes genauer unter die Lupe genommen werden.

Die Werke, die im Verlauf des Workshops entstehen, können dabei Ziel der gesamten Gruppe sein oder als individuelle Arbeiten entstehen. Die kleinen Gruppen von zehn bis zwölf SchülerInnnen erleichtern dabei gemeinsames Arbeiten und die Bereitschaft, sich gegenseitig bei schwierigen handwerklichen Aufgaben zu helfen, Tränen zu trocknen, wenn die Idee nicht umzusetzen ist und eine Alternative gefunden werden muss.

Zwischen Kunstpädagoginnen und KünstlerInnen entwickelt sich im Optimalfall ein transdisziplinärer Dialog und innerhalb der Workshops idealerweise eine Arbeitsweise, die Erfahrungen und Arbeitsmethoden verbindet. Dieser Perspektivwechsel bedeutet einen Zugewinn an Kompetenz und die Reflexion über die eigenen Arbeitstechniken. Um diesen Dialog zu fördern und das Netzwerk zwischen Lehrerinnen, Künstlern und den Schülern und Schülerinnen untereinander zu befördern, schließt künstler für schüler zum Ende des Sommerhalbjahres mit einer Abschlussveranstaltung ab.

Die Abschlussveranstaltung

Alle Teilnehmenden finden zu einer Ausstellung und zur Präsentation der Arbeitsprozesse in den Workshops und natürlich der entstandenen Werke zusammen. Kurz vor den Sommerferien wird gefeiert und Resümees gezogen. Zu Gast sind seit Jahren die Bildungsminister und Kulturpolitiker des Landes. Bei gemeinsamen Rundgängen und Performance-Aufführungen werden Nachwuchskünstlerinnen entdeckt und Ideen für neue Aktionen gesponnen. Die Abschlussveranstaltung ist als zertifizierte Weiterbildungsveranstaltung für LehrerInnen anerkannt, da sie eine Vielfalt von Impulsen und ein umfassendes Netzwerk für professionellen Austausch über Kunst sowie ihre Arbeits- und Vermittlungsmethoden bietet.

Als Gastgeberin der Ausstellung boten sich ausgewählte Schule an. Zum 15-jährigen Jubiläum der Projektreihe im Jahr 2014 wurde die Abschlussveranstaltung erstmals in einem professionellen Ausstellungsbau, der Kunsthalle Rostock gefeiert. Damit erhielt die Kunst der Schüler einen professionellen Präsentationsort. 2015 wurde das Pommersche Landesmuseum zum Austragungsort, 2016 präsentierten die SchülerInnen die originalen Arbeiten im Staatlichen Museum Schloss Güstrow, dem bedeutendsten Renaissance-Schloss des Landes.

Dokumentation – ein Fundus an Ideen

Wie kaum ein weiteres Projekt im Bereich freier Kunst und Schule besitzt künstler für schüler ein umfassendes, langjährig aufgebautes Archiv. Über die Internetseite www.kuenstler-fuer-schueler.de sind sämtliche Workshop-Dokumentation seit dem Jahr 2002 online frei zugänglich. Mit Kurzbeschreibungen und Fotografien werden die Werke und Arbeitsprozesse dokumentiert, wodurch ein Fundus an Ideen sich auftut. Anleitungen werden jedoch nicht geboten, da sich aus einem Großteil der Projekte herauslesen lässt, dass diese von eigenen Arbeitsweisen, Perspektiven oder auch den Persönlichkeiten der jeweiligen Künstlerinnen abhängen. Inzwischen umfasst dieser Ideen-Pool nahezu 400 Workshops, um Inspiration zu bekommen, Werke des künstlerischen Nachwuchses zu entdecken lässt und schließlich die Kinder und Jugendlichen zeigt, die etwas Machen, dessen Resultat noch nicht ganz abzusehen scheint.

Darüber hinaus werden die Workshops mit einer Broschüre fotografisch und textlich dokumentiert. Mit diesem haptischen, professionell gestalteten Dokument lassen sich in direkten Gesprächen Projektpartner überzeugen. Das Blättern gibt schnellen Überblick über die Vielfalt an konzeptionellen Ansätzen, Teilnehmenden und künstlerischen Techniken.

Seit 2015 ergänzt auch eine Tagung das Angebot und lädt LehrerInnen und KünstlerInnen zu Fortbildungsangeboten, praktischen Workshops, theoretischem Diskurs und gemeinsamen Erfahrungsaustausch ein.  Thematisch wurde die erste Veranstaltung motivierend mit „Ahoi auf zu neuen Ufern“ überschreiben. Unter dem Titel „SICHTWEITE – Interkulturalität als Selbstverständnis in der Kunstpädagogik“ diskutierten Lehrer und Künstlerinnen im Herbst.

Und dann?

Die Projektarbeit ist auf einen Zeitrahmen von 30 Schulstunden begrenzt. Im folgenden Jahr werden die Projekte an anderen Schulen durchgeführt, um möglichst vielen Schulen im Land die Möglichkeit zu geben, an künstler für schüler teilzunehmen und Erfahrungen zu machen, welche besondere Qualität die Arbeit von Künstlerinnen als Alternative zum alltäglichen Schulunterricht mit didaktischen Zielsetzungen bietet.

Für einige der Nachwuchskünstler geht es nach dem Projekt im Sommerhalbjahr noch weiter: Seit 2015 werden besonders begabte SchülerInnen von den KünstlerInnen vorgeschlagen und zum „Talentcamp“ nach Friedrichshagen und ins Künstlerhaus Schloss Plüschow eingeladen. Zwanzig ausgewählten SchülerInnen zwischen der 7. und der 12. Jahrgangsstufe erhalten an fünf Tagen eine konzentrierte Arbeitsatmosphäre in der Natur und zwischen historische Architektur. Projekte mit Künstlern und Künstlerinnen aus unterschiedlichen Gattungen von Zeichnung über Architektur bis Land Art werden realisiert, so dass die professionellen Künstlerinnen Gegenwartskunst und ortspezifisches Arbeiten vermitteln. 2016 wurde „Tradition und Fremde“ als Leitthema gewählt, um aktuelle gesellschaftspolitische Fragen aufzugreifen, aber auch einen Bezug zum geschichtsträchtigen Ort herzustellen. Das „Talentcamp“ wird als Kooperationsprojekt durch das Schloss Plüschow durchgeführt und erhält eine Förderung des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Der ländliche Freiraum in Plüschow führt dabei die Chancen und gleichzeitig auch die Herausforderungen im dünn besiedelten Flächenland vor Augen.

In Mecklenburg-Vorpommern liegen die kulturellen Angebote häufig nicht vor der Haustür. Besonders in den dörflichen Regionen lädt die schwache Infrastruktur wenig zum Ausflug in Museen oder Kunstvereine ein. Sich mit Kunst, insbesondere mit zeitgenössischer Kunst zu befassen, erfordert sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene ein hohes Maß an Eigeninitiative. Dennoch entstehen gerade in Mecklenburg-Vorpommern spannende Kunstorte. Das Land bietet Platz, Ideen zu entwickeln und umzusetzen. Kunst als Mittel, aufmerksam, einfühlend oder assoziativ die Welt zu betrachten und sich bewusst auf Perspektivwechsel einzulassen bedarf einer Begegnung mit Kunst und ist ein Lernprozess. Dieses erfahrungsgestützte Lernen wird im Umgang mit Kunstschaffenden und im selbst schöpferisch Tätigwerden entwickelt.

Die Initiative künstler für schüler weckt damit ein Verstehen für Kunst als kulturellen Grundwert einer aufgeklärten, demokratischen Gesellschaft. Im gemeinsamen Arbeiten mit den Künstlern erfahren Kinder und Jugendliche im unmittelbaren Umgang, womit sich zeitgenössische Künstlerinnen beschäftigen und wie kreative Schaffens- und Erkenntnisprozesse bereichern können. Ästhetische Bildung wird durch das eigene Handeln möglich, Aufmerksamkeit und Querdenken gestärkt. Diese Werkzeuge müssen gepflegt werden. Am Ende wird sortiert und wieder aufgeräumt.

 

Die Autorin: Die studierte Kunsthistorikerin Christina Katharina May ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kunstmuseum Ahrenshoop. Bis Ende 2017 war sie Projektleiterin des Künstlerbundes Mecklenburg und Vorpommern e.V. im BBK, wo sie Ausstellungsprojekte und Aktionen organisierte sowie die Geschäftsstelle leitete. In ihrer wissenschaftlichen Arbeit untersucht sie die Wechselwirkungen zwischen Kunst, Landschaft und Architektur und kuratiert Ausstellungen im Bereich Grafik und Fotografie des 20. und 21. Jahrhunderts. Außerdem war sie als Dozentin für Kunst- und Architekturgeschichte von 2009 bis 2014 für die Handwerkskammer zu Köln tätig.

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